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Lesen statt schiessen
Das kolumbianische Kulturministerium hat für die ehemaligen Farc-Rebellen Bibliotheken aufgebaut. Hier sollen sich Kämpfer und Zivilisten begegnen.

Published at: Tages-Anzeiger

Field Producer and translator for David Karasek

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Auf seiner behaarten Brust fünf unübersehbare Goldketten, in seinem vernarbten Gesicht schlechte Zähne und in den Händen ein Buch über Menschenrechte. «Wir als linksgerichtete revolutionäre Organisation haben schon immer Bücher gelesen. Wir hatten im Dschungel die Werke von Karl Marx», antwortet Aldemar Mendez, ehemaliger Farc-Rebell, auf die Frage, warum er hier sei. Er sei nicht nur bereit, sich in die Gesellschaft zu integrieren – er möchte Politik machen: «Ich suche hier Bücher über Wirtschaftspolitik und über Menschenrechte. Ich möchte vorbereitet sein. Ich möchte Bürgermeister werden.»

Die Kulisse: farbige Werbeflaggen, noch farbigere Tische und Klappstühle, dazu bunte Getränke unter gelben Sonnenschirmen. Die Eröffnungsfeier einer Bibliothek für ehemalige Farc-Rebellen gleicht einem Sommerfest. Es ist eine Prestige­veranstaltung der Regierung, zu der die Presse eingeladen wurde. Sieben Stunden dauert die Fahrt von der Hauptstadt Bogotá Richtung Süden zum kargen Dorf Mesetas, an dessen Rand gerade gefeiert wird – sieben Stunden für 250 Kilometer auf unbefestigten Strassen.

Zutritt für Journalisten verboten

Der Grund, weshalb diese Bibliothek, die letzte von zwanzig, die in diesem Frühling im ländlichen Kolumbien eröffnet wurden, so abgelegen ist: Sie wurde vor einer sogenannten Farc-Befriedungszone gebaut. Diese Zonen dienen der Entwaffnung und Vorbereitung zur Integration von ehemaligen kolumbianischen Rebellen, nachdem sich die Regierung und die Farc-Guerilla letztes Jahr auf ein Friedensabkommen einigten. Nach rund 50 Jahren Bürgerkrieg mit über 220'000 Toten sollen die verbliebenen rund 6900 Rebellen in diesen Befriedungszonen bis Mitte dieses Jahres ihre Waffen abgeben und dann mittels eines Programms der staatlichen Integrationsbehörde auf ein ziviles Leben vorbereitet werden.

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Die Bibliothek in Mesetas, nahe der Entwaffnungszone.

Die Bibliotheken stellen einen Teil dieser Vorbereitung dar: Ausserhalb der Farc-Zonen errichtet, treffen dort ehemalige Rebellen und Zivilisten aufeinander, erste Schritte hin zur Integration sollen so vollzogen werden. Wer die Zonen verlassen will, muss seine Waffen abgeben, es gelten strenge Sicherheitsregeln. Journalisten dürfen weder die Farc-Zonen selbst betreten noch an anderen Tagen die Bibliotheken besuchen – nur heute, zur Eröffnung dieser Einrichtung, wird ein direkter Kontakt zu den ehemaligen Kämpfern zugelassen. Fast alle der 26 Entwaffnungszonen haben nun eine eigene Bibliothek. Sie befinden sich in besonders armen Regionen Kolumbiens. Der Grund: Der Friedensvertrag beinhaltet den Wunsch der Farc, die Zonen in den Gebieten zu errichten, wo sie früher kämpften und lebten. Im Dschungel Kolumbiens, in den allerärmsten Gebieten des Landes.

«Viele behaupten, wir seien wie Tiere»

Lesen statt schiessen? Integration durch Bücher? Hinter der Idee steckt das kolumbianische Kulturministerium; ausgeführt wurde das Ganze durch die Nationalbibliothek Kolumbiens. Ist eine Bibliothek, die aussieht wie die Scheune eines Kleingartenvereins und lediglich 500 Bücher umfasst, für ehemalige Krieger interessant genug? Werden Menschen, die teilweise ihr gesamtes Leben im Dschungel verbrachten und grösstenteils Analphabeten sind, hier Zeit verbringen? Andererseits haben die ehemaligen Farc-Kämpfer nicht sehr viel zu tun, solange das tatsächliche Integrationsprogramm nicht gestartet ist. Die Zonen gleichen grossen Flüchtlingslagern mit provisorischen Zelten, die teilweise kaum Schutz vor der Sonne bieten. Sanitäre Anlagen gibt es nicht wirklich, alles ist improvisiert. Zwar ist es hier immer warm, aber Regen und Sonne können schnell zum Problem werden, von allen anderen Widrigkeiten in so einem Lager einmal abgesehen.

Oder ist das Ganze ein Werbeversprechen der kolumbianischen Regierung, um den viel diskutierten Friedensvertrag zu rechtfertigen beziehungsweise um zu zeigen, dass alles prima läuft? Die Regierung hofft, dass ehemalige Kämpfer, die im Dschungel täglich um ihr Überleben kämpften, sich das Lesen hier selbst beibringen werden. Linke Rebellen und Bücher – das passt ja auf den ersten Blick. Die kolumbianische Kulturministerin Mariana Garcés preist auf jeden Fall die Macht des Lesens: «Bücher öffnen das Fenster zur Welt und ermöglichen Wissen. Wir bieten den Farc an, statt mit Waffen mit Wörtern zu diskutieren.» Klingt jedenfalls nach ganz viel Frieden.

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Auch moderne Technik steht zur Verfügung.

Zur kunterbunten Eröffnung der Bibliothek sind einige ehemalige Farc-Kämpfer gekommen. Sie scheinen sehr interessiert und schauen sich begeistert die Medien an. Neben Sachbüchern und Belletristik gibt es auch E-Reader und Tablets in schicken, grell-leuchtenden Hüllen. Zudem stehen mehrere Arbeitsplätze mit Laptops zur Verfügung. Die Wände sind mit bunten Bildern bemalt, ein Mix aus Möchtegern-Hipster-Chic und Grundschulaufenthaltsraum.

In einem der aufblasbaren Sessel hat sich Natalia Amaro hingefläzt, eine ehemalige Rebellin, die 13 Jahre lang der Farc diente. Ihr rosa Shirt ist zwei Nummern zu eng, ebenso ihre verwaschenen Jeans. Die 35-Jährige erzählt, dass sie sich mithilfe der Bücher auf das zivile Leben vorbereiten will. Sie fordert, dass auch alle anderen Kolumbianer Bibliotheken besuchen. «Es ist wichtig, dass die Bevölkerung unsere Seite der Geschichte kennt. Viele behaupten, wir seien wie Tiere, wir würden Blut trinken. Das ist völliger Quatsch. Wir werden lesen, um uns zu integrieren. Aber ich verlange im Gegenzug, dass die Menschen auch unsere Geschichte lesen, um uns besser kennen zu lernen.»

Natalia klingt sehr überzeugend, wenn sie versichert, dass die Bücher ihr helfen werden, ein normales Leben zu führen. Details, wie das genau funktionieren soll, bleiben unklar. Aber darum geht es heute nicht. Alle ehemaligen Farc-Rebellen hier scheinen den Friedensvertrag sehr ernst zu nehmen. Früher wild entschlossen gegen die Regierung kämpfend, machen sie heute den Eindruck, ebenso zielstrebig ihrem neuen Lebensentwurf zu begegnen.

Die Bücher in den Regalen erinnern an eine Stadtbibliothek: Von Sachbüchern wie «Sanitärtechnik», dem «Abc der Kunst» oder dem «Guinnessbuch der Rekorde» über Kochbücher, Biografien hin zu Belletristik wie «Das Parfum». Es gibt einen Fernseher und DVDs, präsentiert werden Blockbuster und Kinderfilme wie «Findet Nemo». Alles dabei, wie es scheint. Auch ein Bibliothekar ist vorhanden. Mit der Auswahl der Medien wolle man keinesfalls die Farc beeinflussen, versichert die Direktorin der Nationalbibliothek Kolumbiens, Consuelo Gaitán. Durchs Internet hätte ja jeder unbegrenzt Zugang zu jeglichen Büchern und Informationen. Zensiert oder gelenkt würde nichts.

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Das Bücherangebot reicht von «Sanitärtechnik» bis zu «Das Parfum». Fotos: Diana Rey Melo

Die ehemaligen Farc-Mitglieder wirken tatsächlich sehr interessiert am Lesestoff. Zumindest heute nehmen viele das Angebot dankbar an und erzählen freizügig, wie wichtig Bildung für sie sei und wie sie sich ihr zukünftiges Leben vorstellen. Dass Lesen bildet und Bildung die Basis für Integration ist, scheint ihnen vollends bewusst.

Eine ehemalige Kämpferin liegt auf einem Sessel. In ihren Händen hält sie den Bestseller «Der Junge im gestreiften Pyjama». Auf die Frage, warum sie dieses Buch über den Holocaust lese, sagt sie: «Ich will alles rund um den Zweiten Weltkrieg lernen. Ich will Kriege verstehen, damit ich mit meinen eigenen Fehlern konfrontiert werde. Denn solche Szenarien dürfen sich niemals wiederholen.»

Die Zielstrebigkeit der Kämpfer ist beeindruckend: Wer es jahrelang im Dschungel geschafft hat, unter Todesangst zu überleben, um für die eigenen Ideologien zu kämpfen, der muss ja geradezu prädestiniert dazu sein, jedes gesteckte Ziel zu erreichen – und selbst in der modernen Zivilisation zu überleben.

Im Friedensvertrag verankert

Draussen, vor der Bibliothek, spielt der Ehemann einer lesenden Farc-Kämpferin mit einem Hundewelpen. Während er dem Hund übers Fell streichelt, spricht er über Frauen. Auf die Frage, ob er sich denn auch für die Bibliothek und für die Bücher interessiere, nimmt er einen tiefen Zug an seiner Zigarette und antwortet: Er könne weder lesen noch schreiben.

Bei den Friedensverhandlungen war es allen Parteien wichtig, dass die gesamte kolumbianische Bevölkerung freien Zugang zu Bildung und Kultur geniesst. Dies wurde entsprechend verankert und steht bereits im ersten Absatz des Friedensvertrags. Alle glauben fest an den Willen zur Bildung der Farc. Consuelo Gaitán, die Direktorin der National­bibliothek, sagte in ihrer Eröffnungsrede: «Eine Bibliothek ist das ideale Werkzeug, um sich zu bilden. Zudem geben wir den Farc die Möglichkeit, ihre Ideologien zu konsolidieren und sich später im politischen Alltag besser ausdrücken zu können.» Es wird also erwartet, den ehemaligen Rebellen wieder zu begegnen.

Als Mendez, der Farc-Kämpfer mit den Gold­ketten, die Bibliothek verlässt, trägt er «Romeo und Julia» unter dem Arm. Im weitesten Sinne auch ein Buch über Menschenrechte.

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