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Schulausflug mit 200 Polizisten

Barbara Zbinden unterrichtet an der Schweizer Schule in Bogotá. Schweizer Präzision trifft auf kolumbianischen Charme, was nicht immer ganz einfach ist.

Field Producer, translator and photographer for David Karasek

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Barbara Zbinden verlängert ihren Vertrag und unterrichtet weiter in Bogotá

Wie jeden Morgen herrscht Chaos auf den Strassen von Bogotá – alles staut sich. Barbara Zbinden sitzt im Taxi, ist auf dem Weg zum Colegio Helvetia, einer Schweizer Privatschule. Es ist der erste Arbeitstag der Zürcher Primarlehrerin, die bisher ein geregeltes Leben in Kilchberg führte und stets gut vorbereitet ihrem Lehrplan folgte. Ihr Taxi, das sie zur Schule bringen soll, steckt im Berufsverkehr von Bogotá fest, sie wird zu spät kommen. An ihrem allerersten Tag. Schlagartig wird ihr an diesem Morgen klar: Kolumbien ist nicht die Schweiz, hier ticken die Uhren anders. Nicht langsamer – eher schneller, aber mit weniger präzisem Uhrwerk.

Nur kein Stress

Raus aus dem Taxi und zu Fuss weiter, schliesslich wartet eine erste Schulklasse samt Eltern in der Schweizer Schule auf sie. Auch für die Schüler ist es der erste Schultag, also eine Premiere für alle. Barbara hastet, so schnell sie kann, zur Schule, obwohl sie eigentlich am liebsten in den Tiefen des Taxisitzes versunken wäre. In der Schweiz brachte sie nach ihrer fast zehnjährigen Lehrerfahrung nichts aus der Ruhe, mit ihrer Klasse wusste sie umzugehen, und auch zu den Eltern der Schüler hatte sie ein gutes Verhältnis. Hier in Bogotá fällt sie ohnehin auf – mit ihren rotblonden Haaren, ihrer hellen Haut und ihren nicht vorhandenen Spanischkenntnissen. Und jetzt war sie nicht einmal in der Lage, pünktlich die vor Erwartung platzenden Erstklässler zu empfangen. Schlimmer könnte der Start in ein neues Leben kaum beginnen, wie sie in diesen Minuten rennend denkt.

Als sie schliesslich mit zehnminütiger Verspätung vor 26 Kindern samt Eltern steht, schweissgebadet und nicht in der Lage, sich auf Spanisch zu erklären, wird ihr erneut bewusst, dass Bogotá nicht Zürich ist und zehn Minuten auf einer kolumbianischen Uhr nicht dasselbe sind wie zehn Minuten auf einem Schweizer Uhrwerk: Die Eltern heissen sie herzlich willkommen, die Kinder freuen sich sowieso, und alle umarmen sich erst einmal ausgiebig. Von Stress oder Unmut keine Spur, die neue Lehrerin ist endlich da, und alles wird gut.

Für die Kinder ist es zwar der erste Schultag, neu ist ihnen die Schule dennoch nicht – vor der Primarschule besuchten sie bereits den schuleigenen Kindergarten. Schon bei den Allerkleinsten wird Deutsch gesprochen, denn das ist einer der Hauptgründe dafür, dass gutsituierte Kolumbianer ihre Kinder auf eine Schweizer Privatschule schicken: Sie erhoffen sich Vorteile für ihre Kinder in deren späterem Berufsleben, wenn sie mit einer Fremdsprache wie Deutsch aufwarten können. Die Schule erscheint wie ein Mix aus der Schweiz und Kolumbien, solide gebaut, äusserst ordentlich und sauber, dabei mit südamerikanischem Charme und internationaler Aufmachung: Alle Schilder sind dreisprachig, Deutsch, Französisch und Spanisch, am Basketballkorb ist eine Schweizer Flagge angebracht.

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Gefährlicher Alltag

Mittlerweile lebt Barbara seit drei Jahren in Kolumbien, eigentlich läuft ihr Vertrag bald aus. Die meisten Lehrer, die aus der Schweiz nach Bogotá kommen, zieht es nach dieser Zeit zurück in die Heimat, ein paar Jahre sind für sie genug Abenteuer. Nicht so Barbara. Die 34-Jährige will erst einmal bleiben, gerade hat sie ihren Arbeitsvertrag um ein weiteres Jahr verlängert.

Ein perfektes Spanisch sei für ihn nicht zwingend erforderlich, um sich als Lehrer hier zu bewerben, sagt Cédric Schuppisser, der Rektor des Colegio Helvetia. Spanisch lerne sich relativ schnell. Andere Skills, wie Flexibilität und Interesse an fremden Kulturen, seien weitaus wichtiger, um sich als Schweizer in der Schule in Bogotá schnell zu integrieren.

Diese Erfahrung machte auch Barbara: Anfangs bekam sie wöchentlich privaten Spanisch-Unterricht, heute ist das Vergangenheit. An das neue Leben hat sie sich gewöhnt. Ihre offene, selbstsichere Art half ihr sicherlich, sich auf die südamerikanische Lebensweise einzulassen – die Unterschiede zu ihrer alten Schule in Zürich waren teilweise enorm. Zwar ist Bogotá heute eine moderne Metropole, die auch für viele Europäer reizvoll ist, dennoch ist das Leben hier anders – und auch immer noch gefährlicher. So wird die Privatschule rund um die Uhr von vier Sicherheitsbeamten bewacht. Und wenn die Schüler einen Ausflug in das in Fussdistanz liegende Kino machen, werden sie von 200 Polizisten begleitet. Für Schweizer unvorstellbar, in Bogotá Alltag. Auch waren die kolumbianischen Schüler überrascht, als Barbara ihnen eine Schweizer Geschichte vorlas, in der die Kinder zu Fuss zur Schule gingen. Hier unvorstellbar – morgens werden alle mit dicken SUV chauffiert, die Angst vor Überfällen und Entführungen ist viel zu gross.

Handschlag statt Umarmung

Barbaras Klasse, die sie seit deren erstem Schultag vor drei Jahren leitet, besteht aus 26 Kindern, nur 5 davon haben Eltern mit Schweizer Staatsbürgerschaft. Gegründet wurde das Colegio Helvetia vor fast 70 Jahren von einigen Schweizer Familien. Heute wird es von über 700 Schülern wohlhabender Eltern besucht, wobei 80 Prozent der Kinder Kolumbianer sind. Das Schulsystem, zur Hauptsache basierend auf einem Schweizer Lehrplan, muss eine Schweizer Bildung mit Maturität garantieren und die Kultur der Schweiz fördern. Gesprochen wird Deutsch oder Französisch.

Barbara versucht, den Kindern die Schweizer Eigenheiten auch kulinarisch näherzubringen. Besonders wichtig ist für sie allerdings, beziehungsorientiertes Lernen zu fördern, die Kinder zu motivieren, Neues selbst erfahren zu wollen, und ihnen begreifbar zu machen, warum es so wichtig ist, bestimmte Dinge zu erlernen. Anders als in der Schweiz wird in Kolumbien meist Frontalunterricht angewandt. Die Schüler lernen den Stoff nur auswendig, statt zu verstehen, was und warum sie es tun. Auch die Beziehung zu den Schülern unterscheidet sich stark: Es sind kaum Grenzen zwischen Lehrern und Schülern vorhanden. Die Schüler umarmen die Lehrer zur Begrüssung und duzen sie, jedoch scheint diese nach aussen getragene Herzlichkeit von sehr oberflächlicher Bedeutung: Direkt angesprochen werden Konflikte unter den Schülern nicht. Auch Elterngespräche gestalten sich schwierig, da es in Kolumbien unüblich ist, Probleme direkt anzugehen. Stattdessen werden zunächst ausschweifend Belanglosigkeiten ausgetauscht, egal, ob bei Behörden oder in einer Schule.

Durch klare Strukturen und einen distanzierteren Umgang versucht die Lehrerin, die Beziehung zu ihrer Klasse zu stärken. Statt Umarmungen gibt sie den Kindern am Morgen, wie in Schweizer Schulen üblich, schlicht die Hand, echtes Lernen und Begreifen versucht sie mit der ihr vertrauten Pädagogik zu erreichen. Doch auch Barbara greift zu belohnenden Hilfsmitteln: Wenn ein Schüler ihr beim Aufräumen des Klassenzimmers hilft, erhält er von ihr ein Schoggistängeli.

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Zur Beruhigung Salsa

Sie räumt ein, dass der Unterricht anstrengender ist, als sie es aus Zürich gewohnt war – einerseits herrscht oft Chaos unter den Kindern, andererseits findet der gesamte Unterricht in Deutsch statt. Das bedingt viel mehr Geduld und Erklärungen, da es für die Kinder eine Fremdsprache ist. Resigniert hat die Zürcherin beim Lärmpegel: In der Klasse herrscht ein ständiges Geschnatter, völlige Ruhe ist den Kindern fremd. Barbara glaubt, ganz ohne Geräuschkulisse könnten sich die Schüler hier gar nicht konzentrieren – und macht öfter einmal Salsa-Musik an, die dann im Hintergrund läuft.

Ihr Spanisch ist mittlerweile fliessend, und auch die Schüler, nun in der dritten Klasse, kommunizieren heute problemlos auf Deutsch. Die Entscheidung, ihre Uhr in Bogotá weiter ticken zu lassen, hat jedoch sicherlich auch private Gründe: Die Zürcherin hat sich in einen Kolumbianer verliebt, die beiden wollen bald eine Familie gründen und heiraten.

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